Bewusst werden, anders sehen

Nahezu alles, was wir um uns herum sehen, war zu irgendeinem Zeitpunkt lediglich ein Gedanke in irgendeinem Kopf. Es musste erst bewusst werden, ehe es werden konnte. Es war das, was „Realisten“ gerne als „Hirngespinst“ bezeichnen. Das schon Gewordene und die bekannten Bahnen sind für Realisten der Maßstab des Möglichen. Wirkungen und Risiken sind bekannt. Was sich bewährt hat, ist gut. Das Neue, Andere ist fragwürdig oder sogar bedrohlich. Und die Liste der Bedrohlichkeiten im Verlauf der Geschichte ist lang und voller Kuriositäten. Von lustigen Überzeugungen, wie etwa, dass Menschen sterben würden, wenn sie schneller als 25 km/h reisen – das hatten Skeptiker gegen die erste Bahnverbindung in Deutschland einzuwenden –, bis hin zu Alpträumen der Geschichte: Juden seien eine minderwertige Art von Mensch, oder Frauen seien eine Gefahr für die Kultur.

Wird diese Schranke der Furcht überwunden, warten auf uns neue Erfahrungen. Nicht alle sind „gut“ – also angenehm, freudig oder schmerzfrei. Aber aus allen lässt sich etwas lernen und die wenigsten sind so bedrohlich, dass man sie ganz meiden müsste. Hinter dieser Schranke des Unbekannten warten neue Welten – bewusst werden bedeutet ja, etwas zu wissen, das man vorher nicht wusste.

Als Steve Wozniak mit Steve Jobs in der Garage seiner Eltern an einem Personalcomputer (inzwischen schon ein veraltender Begriff!) arbeitete, fiel ihm siedend heiß ein: Er hatte ja einen Vertrag mit Hewlett-Packard, in dessen Rahmen er alle Ideen zuerst dort abliefern musste. Also vereinbarte er einen Termin und stellte die Idee eines PCs vor. Sein Ansprechpartner sah ihn völlig verständnislos an und fragte ihn, ob er allen Ernstes glaube, irgendjemand würde sich einen Computer ins Wohnzimmer stellen wollen. HP hatte also kein Interesse und Steve & Steve gründeten die Computerfirma mit dem Apfellogo. Und so wurden der Mac mit der grafischen Benutzeroberfläche Wirklichkeit, das (legale) Herunterladen von Musik, Filme und Software aus dem Internet, das Smartphone …

Unser kollektives Bewusstsein als Gesellschaft bestimmt, was wir für wirklich halten und wie wir uns in der Welt bewegen. Es bestimmt, welche Realitäten wir jeden Tag durch unsere Entscheidungen erschaffen. Damit prägen wir die Welt und letztlich uns selbst. Ein Film, der das auf ganz beeindruckende Weise darstellt, ist Arrival – Science Fiction at it’s best.

Die Schranken der Wahrnehmung

Ich möchte an dieser Stelle keine Filmkritik schreiben – eine gute findet sich zum Beispiel in der FAZ. Aber vorweg der Spoiler-Alarm: Wenn du Arrival noch nicht gesehen hast und dir nicht die Überraschung verderben willst, lies lieber nicht weiter. Hier interessiert mich vor allem, wie die Story die Schranken in unserem Denken aufzeigt.

Der Film steht in einer Reihe mit Titeln wie Contact, dem großartigen Her von Spike Jonze, Cloud Atlas oder Interstellar. Und ultimativ natürlich mit Stanley Kubriks (und Arthur C. Clarkes) 2001. In Arrival geht es um eine abenteuerliche Geschichte, die spektakulär mit der Landung von zwölf Raumschiffen beginnt. Die sich daraus entwickelnden Ereignisse sind ein Spiegel für den „State of the Union“ unseres Bewusstseins als Menschheit. Statt mit fiesen Laserwaffen anzugreifen machen die Aliens nämlich einfach – nichts. Sie sind nur da. Die Menschen auf allen Kontinenten hingegen entfalten ein Szenario, das an einen Spazierstock im Ameisenhaufen erinnert. Es passiert das, was heute die Standardantworten in der Politik sind: Man versucht, so viele Informationen wie möglich zu sammeln, und dabei die anderen Nationen um sich herum nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Ein tödliches militärisches Arsenal wird aufgefahren. Schnelle, deutliche Antworten sind gefragt. Freies Denken ist nur möglich, solange es den Prämissen des Machterhalts nützlich sein kann. Der dritte Weltkrieg ist nur einen Atemzug entfernt.

Kollektives Bewusstsein jenseits des dualistischen Denkens

Vor Ort versuchen zwei Wissenschaftler – ein Physiker und eine Linguistin – mit den Außerirdischen Kontakt aufzunehmen, die tatsächlich einmal am Tag so etwas wie ein Sprechstunde haben. Das geht zunächst mühselig, denn wie spricht man mit Wesen, die völlig anders sind als man selbst? Es gelingt über das Entschlüsseln einer Schriftsprache. Immer mehr stellt sich aber im Laufe des Films heraus, dass die eigentliche Kommunikation nicht über Worte läuft. Die Sprache der Außerirdischen zu erlernen bedeutet gleichzeitig, in ihre Art zu Denken einzutauchen, und damit in ein kollektives Bewusstsein der anderen Art: Zeit verläuft hier nicht linear, sondern alles ist mit allem verbunden. Ursache ist Wirkung, Wirkung ist Ursache. Das Denken ist nicht dualistisch (also: entweder–oder, jetzt oder später, er oder ich), sondern schließt ähnlich einem Kōan das Paradoxe mit ein.

Die Trennung zwischen Botschafter und Botschaft scheint durch die Begegnung mit den Außerirdischen aufgehoben. Die Linguistin beginnt in ihrer eigenen Geschichte Hinweise auf das zu entdecken, was ihr jetzt gerade begegnet. In unserem linearen Denken ist das natürlich unmöglich. In der kreisförmigen Wirklichkeit der Fremden aber völlig normal. Sie scheinen in einer Art permanenter Gegenwart zu leben, in der die Konsequenzen einer Entscheidung ebenso gegenwärtig sind wie die Entscheidung selbst. Will ich also ein anderes Ergebnis haben, verändere ich an der passenden Stelle die Handlung.

Parallel dazu laufen im Film die weltpolitischen Entscheidungen und Ereignisse im Hintergrund mit. Die Menschen reagieren mit Fragen, und viele reagieren mit Angst auf die Ankunft der Fremden. Die Aliens sind der Menschheit offensichtlich technologisch weit überlegen. Stellen sie also eine Gefahr dar? Die mysteriösen Raumschiffe, die wochenlang an Ort und Stelle schweben, werden plötzlich als Bedrohung gesehen. Den Aliens wird der Krieg erklärt …

Bewusst werden

Ein Roland Emmerich hätte an dieser Stelle mit wilden Schlachten voll auf die CGI-Tube gedrückt. Erfreulicherweise entscheidet sich Regisseurs Denis Villeneuve für Handlung statt für Effekte. Auf den Fernsehbildschirmen im Lagezentrum bei einem der Raumschiffe ist aber zu erkennen, wie die Lage langsam eskaliert. Am Ende muss die Mission abgebrochen werden. Die Aliens verlassen die Erde wieder. Gekommen waren sie, wie sie verraten, weil sie „in Tausend Jahren die Hilfe der Menschheit brauchen“ – also rechtzeitig, um einen Samen zu säen, der im veränderten Denken der Linguistin gesät wurde und letztlich den Kurs der Geschichte ändert.

Nun steht der Film nicht allein, sondern in der Reihe anderer Science-Fiction-Titel (siehe oben) in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Ähnliches gibt es in der Literatur und an anderen Stellen wie Wissenschaft und Kultur. Mir fällt auf, wie sich das Denken der Autoren und Regisseure – und damit ja unser aller Denken – in neue Gegenden vorwagt. Die liegen jenseits einer rein materialistischen Auslegung der Wirklichkeit. Darin ist die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass es auf Ebene des Bewusstseins vielleicht noch viel mehr zu entdecken gibt als wir für möglich gehalten hätten. Also nicht da draußen, sondern in uns. Die Antwort liegt, das ahnen wir immer mehr, nicht im Schneller, Besser, Größer, sondern in der Art und Weise, wie wir die Welt sehen.

Schreibe einen Kommentar