Männlichkeit-Mann-Box

Echte Männlichkeit zeigt sich darin, wer den Längsten hat. Wer immer kann. Und alles im Griff hat. Wirklich?

Wir sitzen im Kreis, am Boden. Einige im Schneidersitz auf einem Schaffell, andere in ihren Back Jack gelehnt. Die Sonne ist schon hinter den Bergen verschwunden, aber Fabian spricht noch. Sein Gesicht leuchtet im gelben Licht des frühen Abends. Er blickt auf den Talking Stick, den er mit beiden Händen hält, so, als würde er dort die richtigen Worte finden. Einen langen Moment ist es sehr still, nur ein Hund bellt irgendwo weit weg. Alle Augen ruhen auf Fabian.

„Es ist so“, fängt er leise an zu sprechen, „unsere Freunde sagen uns immer, dass wir das ideale Paar sind.“ In seiner Stimme ist ein ein explosiver Unterton, irgendwo im Dreieck zwischen Wut, Traurigkeit und Schmerz. „Aber die Wirklichkeit sieht ganz anders aus.“ Und dann fließt es aus ihm heraus, der Frust über den Traum, der nach außen so wunderbar aussieht. Wie in seiner Beziehung alles immer sorgfältig unter den Teppich gekehrt wird. Wie sie sich über die Jahre „totgeschont“ haben. Wie schon seit über einem Jahr nichts mehr im Bett läuft außer hirnlose Sitcoms auf dem Tablet.

Die anderen Männer hören zu. Ihre Augen sind wach, auf Fabian gerichtet. Die von Tom sind feucht, denn das, was er hört, lässt so brutal wieder Erinnerungen an seine Ehe wach werden, die vor ein paar Monaten geschieden wurde. Aber davon wird er später erzählen, wenn er den Talking Stick aufnimmt und über seine Erfahrung spricht.

Männlichkeit und die Mann-Box

Die Szene ist typisch für die Art von Gesprächen, die im Council bei Wild and Home for Men ablaufen. Die Manngeburt ist eine Reise zur Männlichkeit, die über die leuchtenden Gipfel der Stärke ebenso führt wie durch die engen, stickigen Täler der Schatten, die wir alle mit uns herumtragen. Was mich über die Jahre an dieser Arbeit immer mehr fasziniert: Sie bringt ein Mannsein hervor, das die lahmen Klischees über „echte Männer“ hinter sich lässt. Wenn der Bullshit beiseite gelegt wird, dann kommt der Mann hervor, der ich wirklich bin. Und das sieht – ach, wie wunderbar bunt die Welt doch ist! – bei jedem anders aus. Echt eben, kein Klischee.

Mann hat’s allerdings auch nicht leicht in unserer Zeit. Was ist denn bitteschön ein echter Mann? Papa war den ganzen Tag in der Arbeit. Kindergarten, Schule: Meistens reine Frauendomäne, jedenfalls in der Grundschule. Von wem lernen wir Männlichkeit? Und welches Bild davon wird vermittelt? Frauen sind emanzipiert (oder sollen es zumindest sein). Und wir Männer? Irgendwo zwischen Frauenversteher und Macho, wobei beide Enden der Skala No-Go-Area sind. Das ist wie Gehen mit rohen Eiern in der Hosentasche.

Dann bleibt oft nur noch, dass man sich zusammenreißt – das macht ein echter Kerl ja sowieso – und wenigstens so gut wie möglich so tut, als wäre man ein Mann. Im englischen Sprachraum hat sich dafür ein Begriff etabliert: Die „Man Box“ – die „Benimm dich wie ein Mann“-Box.

Bloß keine Schwäche zeigen

Die Mann-Box ist ein Käfig aus Verhaltensweisen, mit denen Mann zeigt, dass man ein echter Mann ist. Also Bier mit den Kumpels bei Fast & Furious oder Tränen mit ihr bei Titanic? Toyota Pickup oder Fiat 500? Rosa Hemd mit Blumen oder blaues Karo? Die Wahl fällt meistens ganz leicht, besonders dann, wenn wir wissen, dass andere davon Wind bekommen könnten.

Der amerikanische Autor David Murrow vergleicht das mit einem „Männlichkeitskonto“, das nie leer werden darf. Tue ich etwas, das „männlich“ ist, dann wächst der Kontostand. Werde ich bei etwas „Weibischem“ ertappt, fällt der Saldo ganz rapide. Deshalb kann Mann eben nur mit einem Augenzwinkern verraten (wenn überhaupt), dass am Ende von Titanic nicht nur die Freundin geflennt hat. Und manche Männer werden deshalb nie im Kaufhaus die Handtasche ihrer Süßen halten, während sie nach der perfekten Bluse sucht.

Der Mann in der Mann-Box ist groß, stark, muskulär. Er hat einen langen Penis, will immer, kann immer und kriegt sie immer. Er quatscht nicht, sondern tut. Er ist Polizist, Mechaniker oder CEO. Er trinkt Bier und isst Steak. Und natürlich weint er nie, außer vielleicht, wenn sein Verein Deutscher Meister wird.

Das ist die Währung, mit der Mann auf sein Männlichkeitskonto einzahlt. Gemüse essen, Mozart hören und keinen hochkriegen? Oh mei, oh mei … Da ist man gleich die Schwuchtel, das Mädchen, der Warmduscher.

Der Abziehbild-Mann

Das Perfide daran ist, dass wir als Männer schon von klein auf mehr oder weniger auf diese Schablone getrimmt werden. Und auch wenn wir erwachsen sind, werden wir immer wieder schön auf Kurs gehalten. Sei es durch Bemerkungen aus unserer Umgebung oder durch den breitbeinigen Macho im neuesten Actionfilm. Es sind nämlich bei weitem nicht nur Männer, die einen daran erinnern, wie Mann sich verhalten soll. Die Wissenschaftssendung Quarks & Co etwa berichtet darüber, dass trotz aller Veränderungen in den letzten Jahrzehnten sowohl Männer als auch Frauen Männlichkeit so definieren: „Ein Mann ist ein Mann, wenn er dominant, stark und leistungsbewusst ist und logisch denkt“. Wenn die Sache so einfach ist, dann ist ja eigentlich alles klar, oder?

Entdecke deine Superkräfte

Nun, das bringt uns wieder zu Fabian und seiner Geschichte zurück. Denn den Eiertanz um das (Abzieh-)Bild von einem Mann hatte er ja bestens drauf. Trotzdem lief das Schiff seines Lebens damit auf Grund. Und die Standardlösung – nämlich „mehr vom Selben“ zu tun – hat die Sache auch nicht besser gemacht. Es war allerdings ein Riesenschritt nach vorn, die gut gehüteten Geheimnisse rauszulassen und zu zeigen, wie es ihm wirklich ging. Wie er sich mit der Situation fühlte.

Der Gegenentwurf zum typischen Männerbild ist nicht der Softie, sondern ein Mann, der alle seine Seiten integriert hat und lebt – auch die, die als „weiblich“ oder „schwach“ verpönt sind. Der Franziskanerpater Richard Rohr, einer der Pioniere der Männerarbeit, spricht in seinem Buch „Der Wilde Mann“ davon, dass der Weg zu echter Männlichkeit immer über die „weibliche Seite“ des Mannes führt. Erst wenn die integriert ist, ist ein Mann dazu in der Lage, wirklich authentisch zu leben. Also ganz Mann zu sein. Das klingt vielleicht erst mal komisch. Werden damit nicht klare Grenzen verwischt?

Männlichkeit und GefühleBesser verständlich wird es, wenn man es mal aus einer anderen Perspektive betrachtet. Wer sensibel ist (noch so ein böses Wort …), der nimmt viel wahr. Drehen wir das um: Wer unsensibel ist, an dem gehen viele Dinge vorbei. Sensibel sein kann aber entscheidende Vorteile bringen. Beispielsweise wünschen wir uns einen Feuermelder, der „sensibel“ auf Rauch und Hitze reagiert und nicht erst dann losgeht, wenn wir schon erstickt oder verbrannt sind.

Diese anderen Qualitäten, die wir normalerweise nicht mit Männlichkeit in Verbindung bringen, stellen also Ressourcen dar. Sie geben mir, ums mal etwas markiger zu sagen, die Superkräfte der Frauen an die Hand. Und das macht mich als Mann runder, vielseitiger, beweglicher. Ich habe mehr Werkzeuge im Werkzeugkasten, um auf Situationen zu reagieren. Und kann damit das Leben besser meistern.

Aus dieser Perspektive wirkt dann die Mann-Box auf einmal wie ein Schweizer Offiziersmesser mit nur zwei oder drei Funktionen: Etwas lahm, wenn man weiß, dass das richtige Werkzeug die halbe Arbeit ist.

Probieren geht über Studieren

Wie lernt Mann das also? Herzlichen Dank, dass du bis hierher gelesen hast. Jetzt kommt die schlechte Nachricht: Lesen kann informativ sein, aber das kann man sich nicht wirklich anlesen. Anders sein als Mann braucht darum mehr als nur einen guten Vorsatz und Information. Viel leichter, tiefer und effektiver geht es, wenn man erlebt, wie man als Mann seine emotionalen Superkräfte anzapfen kann.

Nach meiner Erfahrung ist es effektiver, diesen Weg zusammen mit anderen Männern zu gehen. Denn gemeinsam lässt es sich erleben, was es heißt, mal wirklich mutig „aufzumachen“ und die Katze aus dem Sacke zu lassen. Und dann zu sehen, welchen Unterschied das bei mir selbst und bei anderen macht.

Mit genau diesem Ziel wurde die Wild and Home for Men entwickelt. In dieser Männerinitiation ist es nicht selten, dass ein Mann klar Schiff macht und auf einmal genau weiß, was er zu tun hat. Der Weg dorthin führt aber oft erst einmal über den Abgrund von Schmerz, Trauer oder Wut. Für Fabian war die brutale Ehrlichkeit der Türöffner, mit dem das Unaussprechliche auf einmal da sein durfte – gehalten von einer Gruppe von Männern, die keine Angst hatten, sich schmerzlichen Gefühlen zu stellen. Das war für ihn der Anfang eines Neustarts.

Fühlst du dich von der Mann-Box eingeengt? Welche Erfahrungen hast du mit Männerklischees gemacht? Hast du manchmal das Gefühl, bestimmte Teile von dir nicht leben zu können? Teile deine Erfahrung in einem Kommentar unten.

1 Kommentar
  1. Wenn ich diesen Text lese, dann kann ich einiges aus meinem Leben und meinem Weg darin sehen. Das ist schön!
    Ich selbst durfte mich bereits auf den Weg einer Manngeburt machen… Man(n) war das anstrengend und unfassbar emotional, doch es war eine Bereicherung:
    Ich bin noch jung und daher, ist die Frage, wer ich eigentlich bin, zentraler, als vielleicht bei älteren Semestern – doch eigentlich hat man diese Frage ja niemals so „richtig“ beantwortet. Und so saß ich da, unter Männern und teilte meine Geschichte, in einem Raum, in dem ICH sein konnte; Ich nichts musste, außer da zu sein! Verblüffend was man mit so einfachen Gegebenheitsänderungen im Herzen der Menschen bewirken kann.
    Dann teilen diese Männer auch gleich noch ihre Geschichten und man lernt sich und einander zu verstehen und erlebt evtl. sogar allumfassenden Zusammenhalt, nicht so Macho-„Ja-logo-kann-ich-auch,-nur-viel-größer/besser/toller“-Getue. Hat was von unverwaschener Schönheit. Herrlich.
    Natürlich ist der Weg den wir gehen – ob in so einem Seminar oder dann wieder im Alltag – immer ein steiniger, der Höhen, wie auch Tiefen hat, aber was wäre das Leben ohne Hindernisse. Wie Epikur bereits vor tausenden von Jahren behauptete: Die Welt sei, wie ein Atomregen, der gleichmäßig, vor sich hinfällt – lediglich, durch kleine Abweichungen (ausgelöst, durch die Willenskraft eines Individuums) treten diese Atome in Interaktion miteiander. Da man aber nur eine begrenzte Anzahl von Atomen ist, kann man nicht die ganze Welt beeinflussen und muss annehmen, dass es gewisse Dinge gibt, die ich eben nicht beeinflussen kann, die aber mir passieren. Sich dadurch nicht aus der Bahn werfen zu lassen, dass ist dann wohl echte Lebenskunst.
    Also ist doch der entscheidende Schritt, sich aufzumachen, den Weg zu beschreiten. Den Weg, hin zum echten „echten Mann“: Dem Mann, der DU bist!