Im März 2015 traf ich mich mit zehn anderen Teilnehmerinnen auf dem Parkplatz in Furnace Creek, mitten im Death Valley. Ein zusammengewürfelter Haufen von Leuten aus Nordamerika und Europa. Auf den Toiletten im Besucherzentrum hingen warnende „Pee charts“, die darüber informieren, wie man anhand der Farbe des Urins den Grad der eigenen – lebensbedrohlichen – Dehydrierung erkennen kann. Der Tod ist hier ein sehr fühlbarer Begleiter. Aber die Konfrontation mit dem eigenen Sterben war tatsächlich der Grund, weshalb wir mit Zelten und Rucksäcken hier auf dem Parkplatz warteten. Wir waren zu einer ganz speziellen Visionssuche hierher gekommen, zu einer großen Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod.
„The Great Ballcourt“ heißt dieses Seminar, angelehnt an die Tradition der Maja. Auf dem schaukelnden Rücksitz von Meredith Littles altem Toyota ging es über eine holprige Schotterpiste eine Stunde in die Berge des Death Valley, bis schließlich der Weg endete. Meredith und Scott Eberle würden uns mit ihrem Team in den nächsten zehn Tagen an die Schwelle aller Schwellen begleiten. Bei unseren Councils in der Wüste erfuhren wir viel über das Sterben und wie verschiedene Kulturen mit dem Tod umgehen. Mehr aber noch bereiteten wir uns darauf vor, selbst vier Tage draußen zu verbringen – in einer langen Begegnung mit dem Tod. Nach drei Tagen der inneren Auseinandersetzung und Vorbereitung würden wir dann in der Nacht sterben, so die Form dieses Rituals.
Was passiert beim Sterben?
Wie begegnet man dem Tod? Ich hatte mir das ja selbst ausgesucht. Weglaufen war also nicht die Antwort, oder verleugnen, so tun als ob nichts wäre. In den Monaten der Vorbereitung auf das, was da schließlich in den vier Tagen meiner Auszeit in der Wüste passieren sollte, hatte ich versucht, mir das vorzustellen. Wenn ich jetzt zurückdenke, fällt mir auf, dass die Auseinandersetzung mit dem Sterben schon viel früher begonnen hatte. Schon als Junge mit 11 oder 12 hatte ich mir versucht vorzustellen, wie das wohl ist, wenn ich tot bin. Damals ganz geprägt vom materialistischen Weltbild meiner Umgebung: Wenn man stirbt, ist man weg. Nichts. Nada. Ich versuchte mich ins Nichts hineinzudenken, konnte es aber nicht. Später wich das einer christlichen Vorstellung eines Lebens mit Gott in der Ewigkeit. Da war der Tod kein Verlust, sondern ein Gewinn. Allerdings – wenn’s ganz konkret und praktisch ums Loslassen ging, nützte mir das recht wenig.
Wie also dem Tod begegnen? Man kann dem Tod nicht ausweichen. In meiner Vorstellung hatte er etwas Dunkles, Verschlingendes. „The Grim Reaper“ heißt der Sensenmann auf Englisch, der „düstere Schnitter“. Er säbelt mich aus dem Leben, steckt mich in den Sack des Vergessens, reißt mich aus dieser Welt. Unkontrollierbar. Wenn ich ihm schon nicht ausweichen kann, so wollte ich doch zumindest nicht ohne einen guten Kampf gehen. Drei Tage lang hatte ich mich fastend auf diese schicksalshafte Nacht vorbereitet, in der ich sterben sollte. Ich hatte mich der Endgültigkeit meines Todes gestellt. Einen Tag lang verbrachte ich in der „Sterbehütte“, nahm Abschied von wichtigen Menschen in meinem Leben. An einem weiteren sah ich mir mein bisher gelebtes Leben und die Dinge an, die ich getan (und nicht getan) hatte.
Die Begegnung mit dem Tod
Erstaunlicherweise, als diese dritte Nacht schließlich kam, saß ich im Frieden mit mir gegen einen Felsen gelehnt unter dem mächtigen Sternenhimmel. Ich war erstaunlich ruhig. In Gedanken malte ich mir aus, wie es wohl wäre, wenn ich sterben würde. Ein anderer würde in meiner Wohnung wohnen. Meine Kinder würden meinen Besitz unter sich aufteilen, den größten Teil vermutlich verkaufen, verschenken oder wegwerfen. Die Menschen, denen ich wichtig bin, würden von mir sprechen. Eine Weile würde ich immer wieder mal in Gesprächen auftauchen. Und dann würden auch diese Menschen irgendwann vergessen oder sterben und das, was Peter war, gehört dann endgültig der Vergangenheit an. Das ist der Gang der Dinge. Es war ein friedliches Betrachten dieser unabwendbaren Entwicklung. Zwischendurch schlich sich auch der Gedanke ein, dass das ja alles „nur ein Ritual“ sei und ich natürlich nicht wirklich sterben würde.
Als der Tod dann aber mitten in der Nacht kam, geschah das so sanft und leise, dass ich es erst am nächsten Morgen wirklich begriff. Alles wird mir genommen, so hatte ich mir das vorgestellt. Tatsächlich war es ein Aufgehen in etwas Größerem. Es war so, als würde der würzige Wüstenwind den Duft dieser einen großen gelben Blume mitnehmen, die in dem ausgetrockneten Bachbett vor mir blühte. Als käme der Ozean und nähme eine Welle mit. Als würde eine Symphonie spielen und diesen Ton in sich aufnehmen, der ich war. Das alles war so unspektakulär und schön wie ein langes, entspannendes Ausatmen.
Loslassen lernen
Als Flüchtlingskind habe ich den Wunsch nach Sicherheit und Kontrolle über das Chaos des Lebens buchstäblich mit der Muttermilch aufgesogen. Meine Mutter war ein Kriegsflüchtling, ganz ähnlich wie die vielen Menschen, die zur Zeit aus Syrien oder dem Irak zu uns kommen. Deshalb hat sie „Sicherheit“ zum wichtigsten Wort in ihrem Leben gemacht. Daraus ist eine Einstellung zum Leben erwachsen, die für alles vorsorgen möchte. Diese Illusion, das Leben kontrollieren zu können, sich gegen alle Eventualitäten absichern zu können, war für den größten Teil meines Lebens auch meine Strategie.
Damit stehe ich da ja nicht allein da. Der Wunsch nach Sicherheit durchzieht unsere öffentlichen Debatten, die Art und Weise, wie wir arbeiten und Arbeit organisieren – eigentlich fast jeden Aspekt unserer Kultur. Und unser persönliches Leben, unsere Beziehungen. Wie wir uns hinauswagen oder nicht hinauswagen. Wild sein? Oder doch lieber auf Nummer sicher gehen?
Einer der großen Aha-Momente nach der Erfahrung im Death Valley kam zwei Wochen danach bei einer Wanderung durch die Muir Woods mit ihren gigantischen Redwoods. Als wir von unserem Zeltplatz hinab in den Park stiegen, vorbei an immer größeren Bäumen, fiel mir der Unterschied auf zwischen dieser üppigen, grünen Landschaft und der kargen Wüste, in der ich zuvor gewesen war. Unter dem Grün war auch hier nur Fels. Darüber liegt Erde. Sie ist aber nichts anderes als der Überrest von Pflanzen und Tieren, die hier einmal gelebt haben. Deren Tod ist nun zur Grundlage für neues Leben geworden.
Keine Angst vor Veränderung
Mit einem Mal konnte ich sehen, wie alles seine Zeit hat, und es gut ist, dass Dinge sterben, damit Raum für Neues gemacht wird. Die Idee, alles sei aus, wenn etwas stirbt, ist ein Konstrukt unserer Vorstellung. In dem Wald, durch den ich ging, gab es keine leere Stelle. Selbst ein umgestürzter Redwood, der über hundert Jahre braucht, um zu verrotten, ist ein Lebensraum für Tausende von Tieren und Pflanzen. Sterben ist Veränderung, Erneuerung – und Chance. Die Chance, das Leben noch einmal neu, anders anzugehen.
Diese andere Sicht auf das Loslassen, das Gehenlassen, hat meine Perspektive verändert. Es fällt mir leichter, mit Veränderungen umzugehen. Meine Pläne über den Haufen zu werfen – oder vielleicht ja besser neu zu ordnen und nach Möglichkeiten in geänderten Umständen Ausschau zu halten. Dinge und Menschen ziehen zu lassen ist nicht das Ende. Es ist das Ende dieser Zeit, die schön war und vielleicht auch leidvoll. Und es macht Platz für das Leben, das diese Lücke mit Neuem füllen möchte.
Schreibe einen Kommentar